Das Völkerrecht (Lehnübersetzung zu lateinisch ius gentium ‚Recht der Völker‘) ist eine überstaatliche, aus Prinzipien und Regeln bestehende Rechtsordnung, durch die die Beziehungen zwischen den Völkerrechtssubjekten (meist Staaten) auf der Grundlage der Gleichrangigkeit geregelt werden. Die Bezeichnung Internationales Öffentliches Recht wird seit dem 19. Jahrhundert oft synonym verwendet, was auch auf den starken Einfluss des englischen Fachausdrucks public international law zurückzuführen ist.
Wichtigste positivrechtliche Rechtsquellen des Völkerrechts sind die Charta der Vereinten Nationen und das in ihr niedergelegte allgemeine Gewaltverbot, das als Völkergewohnheitsrecht auch über die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen (UNO) hinaus verbindlich ist und jedem Staat etwa einen Angriffskrieg verbietet.
Das supranationale Recht gilt als Besonderheit des Völkerrechts, weil es ebenfalls überstaatlich organisiert ist; allerdings weist es durch die Übertragung von Hoheitsgewalt auf zwischenstaatliche Einrichtungen einige Besonderheiten auf, die nicht vollständig mit dem Völkerrecht erklärbar sind.
Der wesentliche Unterschied zwischen dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht besteht im Fehlen eines kompakten Kodex, eines zentralen Gesetzgebungsorgans, einer umfassenden, hierarchisch strukturierten Gerichtsbarkeit und einer allzeit verfügbaren Exekutivgewalt zur gleichförmigen Durchsetzung völkerrechtlicher Grundsätze.Das klassische Völkerrecht wird den Staaten nicht oktroyiert, sondern stellt eine Koordinationsordnung zwischen ihnen dar. Vor ihm wurden nur die „christlichen“, später die „zivilisierten“ – also die europäischen Staaten – als Völkerrechtssubjekte anerkannt, was den Kolonialismus als legal erscheinen ließ. In der heutigen Völkerrechtsordnung, die sich insbesondere in der UN-Charta widerspiegelt, sind dagegen sämtliche Staaten gleichberechtigte Subjekte. Deshalb gilt grundsätzlich das Prinzip „Ein Staat, eine Stimme.“
Zu unterscheiden ist zwischen dem Friedens- und Kriegsvölkerrecht, wobei das Friedensvölkerrecht auch die Normen umfasst, die den rechtmäßigen Einsatz militärischer Gewalt regeln (ius ad bellum), während als Kriegsvölkerrecht das im Krieg geltende Recht bezeichnet wird (ius in bello). Grundsätzlich kein Teil des Völkerrechts ist das internationale Privatrecht. Dieser Begriff erfasst vielmehr – ungeachtet eines oftmals völkerrechtlichen Hintergrunds – diejenigen staatlichen Normen, die das anzuwendende Recht bestimmen, wenn ein Sachverhalt mehrere staatliche Rechtsordnungen berührt.
Je nach Anzahl der Vertragsstaaten wird zwischen „allgemeinem“, „gemeinem“ und „partikularem“ Völkerrecht unterschieden.
In den letzten Jahrzehnten gibt es Entwicklungen hin zu einer zentralen Rechtsetzung im Völkerrecht. Vorhanden war diese Tendenz bereits zuvor, sie wird vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufgegriffen, der insbesondere nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 dazu übergegangen ist, noch nicht von allen UN-Mitgliedstaaten akzeptierte Verpflichtungen zur Terrorismusbekämpfung zu allgemein geltendem Recht mit Wirkung für und gegen alle Mitgliedstaaten zu erklären und sich dem sogenannten zwingenden Recht, dem ius cogens, zu nähern (vgl. Resolution 1373 und das Counter Terrorism Committee und Resolution 1540). Diese Entwicklung wird teilweise kritisch, teilweise gar skeptisch gesehen, weil es nicht der Konzeption des Sicherheitsrates als Exekutivorgan entspricht, der sich mit der Lösung einzelner Konflikte beschäftigen und nicht als „Weltgesetzgeber“ auftreten soll.
Quellen des Völkerrechts.
Das Völkerrecht kennt unterschiedliche Quellen, deren Geltung und Tragweite bisweilen stark umstritten sind. Als gefestigte Quellen gelten die völkerrechtlichen Verträge, das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, welche ausweislich Art. 38 I lit. a, b, c IGH-Statut von den Richtern am Internationalen Gerichtshof zu berücksichtigen sind.
Völkerrechtliche Verträge sind Vereinbarungen zweier (bilateral) oder mehrerer (multilateral) Völkerrechtssubjekte auf dem Gebiet des Völkerrechts, die von einem Rechtsbindungswillen getragen sind. Insbesondere das Merkmal des Rechtsbindungswillens macht die Abgrenzung zu bloßen Absichtserklärungen und Beschlüssen schwierig, vgl. auch Soft Law. Auch bei den Gründungsdokumenten internationaler Organisationen, wie der Vereinten Nationen oder der Welthandelsorganisation, handelt es sich um völkerrechtliche Verträge.
Das Völkergewohnheitsrecht setzt sich nach allgemeiner Meinung aus zwei Elementen zusammen: Einer Rechtsüberzeugung (opinio iuris) und der hiervon getragenen staatlichen Übung (consuetudo / state pratice).[12] Die konkreten Anforderungen, welche insbesondere an die Staatenpraxis zu stellen sind, sind umstritten und müssen jeweils im Einzelfall bestimmt werden. Es können jedoch einige Merkmale, wie etwa die Dauer der staatlichen Übung oder die Nähe des Staates zur betreffenden Rechtsmaterie, zu ihrer Bestimmung herangezogen werden (handelt es sich etwa um einen Binnenstaat, kann dieser schwerer das Seevölkergewohnheitsrecht beeinflussen). Auch das Verhalten von Staaten in Bezug auf Übereinkünfte, welche mangels Rechtsbindungswillen noch keine völkerrechtlichen Verträge darstellen, kann zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht beitragen. Ein Staat kann seine Bindung an noch im Entstehen begriffenes Völkergewohnheitsrecht verhindern, indem er diesem ausdrücklich und wiederholt widerspricht (persistent objector). Neuerdings wird darüber diskutiert, ob auch das Verhalten sonstiger Völkerrechtssubjekte als consuetudo unmittelbar an der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht mitwirkt. Gewisse Normen des Gewohnheitsrecht sind zudem zwingend, das heißt von ihnen darf nicht, auch nicht durch Vertrag (vgl. Art. 53 WVK), abgewichen werden (ius cogens). Beispiele für ius cogens-Normen im Völkerrecht sind das Piraterieverbot, das Verbot der Sklaverei und das Verbot des Völkermords.
Die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze. Diese bestehen aus allen innerstaatlichen Rechtsordnungen gemeinsamen Prinzipien, Grundsätzen, die jedweder Rechtsordnung immanent sind, zum Beispiel pacta sunt servanda (Verträge müssen eingehalten werden), lex specialis derogat legi generali (das speziellere Gesetz geht den allgemeineren Gesetzen vor) oder lex posterior derogat legi priori (ein späteres Gesetz geht einem vorherigen vor), venire contra factum proprium (Zuwiderhandlung gegen das eigene frühere Verhalten), Prinzipien, die auf dem speziellen Charakter des Völkerrechts beruhen, und Grundsätzen der Rechtslogik.
Der in Art. 38 I IGH-Statut aufgeführte Kanon der klassischen Rechtsquellen des Völkerrechts ist, zumal er auch direkt lediglich den Internationalen Gerichtshof betrifft, nicht abschließend. Insbesondere einseitige Rechtsakte und Sekundärrecht internationaler Organisationen, wie Resolutionen des Sicherheitsrats, werden heute allgemein als rechtsverbindlich akzeptiert. Allerdings ist fraglich, inwieweit es sich dabei tatsächlich um selbstständige Rechtsquellen handelt, denn die Geltung einseitiger (unilateraler) Rechtsakte wird meist gewohnheitsrechtlich begründet und Sekundärrecht leitet sich stets vom Primärrecht der Organisation, und damit von einem völkerrechtlichen Vertrag, ab.
Umstritten ist der Rechtscharakter des sogenannten „weichen Rechts“, des Soft Law. Hierbei handelt es sich zumeist um Erklärungen und Vereinbarungen, welche nicht unmittelbar als rechtsverbindlich klassifiziert werden können, wie etwa bloße Absichtserklärungen. Auch Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen und Abschlussberichte internationaler Konferenzen, wie etwa der KSZE-Schlussakte, werden unter dem Gesichtspunkt von soft law diskutiert. Obwohl es keine unmittelbare Verbindlichkeit aufweist, hat soft law einen immer größeren Einfluss auf das Völkerrecht und wirkt häufig maßgeblich an seiner Entstehung mit, sei es durch die Vorbereitung internationaler Konventionen oder die Weiterentwicklung des Völkergewohnheitsrechts.
Entscheidungen internationaler Gerichte stellen keine allgemeinen Rechtsquellen im Völkerrecht dar, weil ihre Wirkung auf die Parteien des konkreten Streits beschränkt bleibt.In der Praxis allerdings haben Urteile und Gutachten des Internationalen Gerichtshofs großen Einfluss auf die Erkennung und Bestimmung völkerrechtlicher Normen. Gerichtsentscheidungen sowie Lehrmeinung renommierter Völkerrechtler werden deshalb auch als Rechtserkenntnisquellen bezeichnet und sind als solche in Art. 38 I lit. d IGH-Statut aufgeführt.